Nürnberg hat seit 2023 ein Sternerestaurant, das nicht nur kulinarisch, sondern auch konzeptionell neue Maßstäbe setzt: das Tisane. Statt opulentem Speisesaal, Serviceteam und klassischen Gängen erwartet den Gast ein einziger Tresen, ein kleines Team und die pure Konzentration auf das Wesentliche: Geschmack.
Wer hierher kommt, sucht keine Show – sondern Substanz. Kein Chichi. Kein Theater. Nur René Stein und sein Team, die in aller Stille Großartiges leisten.

Ein Raum. Ein Tresen. Eine Bühne für das Wesentliche.

Das Tisane besteht – ganz radikal – nur aus einem einzigen Element: einem massiven u-förmigen Tresen, der bis zu 16 Gäste fasst. Dahinter und mittendrin: die Küche. Keine Trennung, keine Distanz. Man blickt direkt in die Gesichter der Köche, sieht jede Bewegung, jedes letzte Finish. Und das hat eine ungeheure Wirkung.


Drei junge Köche – Miguel, Luigi und Jonas – dirigiert von René Stein, dem einstigen Küchenchef des Schwarzen Adler, bereiten direkt vor den Augen der Gäste die einzelnen Gänge zu. Sie sind gleichzeitig Köche, Gastgeber, Erzähler. Unterstützt werden sie von Sommelière Martina Prenn, die souverän durch den Abend führt – mit Weinen, Tisanes (also Tees im weiteren Sinne) und feinem Gespür für Aromen. Sie serviert Hand in Hand mit dem Küchenteam.
Purismus mit Stern: Das Tisane in Nürnberg
Bei der feierlichen Verleihung der Michelin-Sterne habe ich René Stein zum ersten Mal gesehen – auch wenn wir damals noch kein Wort wechselten. Heute, nach diesem Abend am Tresen seines Tisane, kenne ich seine Küche umso besser. Sein Lehrmeister war kein Geringerer als Dieter Müller, anschliessend lernte er bei Juan Amador und Heiko Antoniewicz und ging für ein paar Wanderjahre in die USA, bevor er nach Nürnberg kam und im Schwarzen Adler seinen ersten Stern erkochte.
Reduktion – kulinarisch und strukturell

Dieses Restaurantkonzept ist mehr als nur ein kreativer Ansatz: Es ist auch eine bewusste Reaktion auf den zunehmenden Personalmangel in der Gastronomie. Als gelernter Restaurantfachmann sehe ich diesen Trend mit einem gewissen Zwiespalt. Der klassische Service stirbt aus – mangels Nachwuchs und gesellschaftlicher Anerkennung. Das Tisane antwortet darauf nicht mit Verzweiflung, sondern mit System. Wenige Mitarbeiter, klare Aufgaben, maximale Effizienz. Eine elegante Reduktion – und ein Modell, das in der Branche Schule machen könnte. So traurig es auch für das Berufsbild im Service ist. Doch das ist ein anderes Thema – zu dem ich zu einem späteren Zeitpunkt noch sehr viel ausführlicher Stellung nehmen werde.
So wird das Tisane auch zum Spiegel unserer Zeit: Weniger ist mehr. Konzentration statt Überfluss. Qualität statt Quantität. Und wie beim namensgebenden Tee – der „Tisane“ – geht es um die Essenz, die sich aus dem langen Ziehen, aus der Reduktion ergibt. Ein Einkochen auf das Wesentliche. Aromen, Texturen, Klarheit.
Das Menü: Elf Gänge – elf Geschichten

1. Fischtaco
Der Abend beginnt mit einem augenzwinkernden Gruß: gezupfter Bauch vom Adlerfisch, paniert, frittiert, serviert im frisch gepflückten Kapuzinerblatt aus dem Küchengarten. Senfgurke, Meerrettich-Mayonnaise und Dill bringen Frische und leichte Schärfe. Ein kleines Streetfood-Kunstwerk mit Tiefgang.

2. Crudité
Ein scheinbar simpler Rohkost-Gang, denn nichts anderes heisst Crudité auf Deutsch (Sprachwitz am Rande: in Frankreich bestelle ich stattdessen gern die „cruautés du jour“) – doch die Marinade aus Traubenkirschblütenessig bringt florale, beinahe poetische Noten ins Spiel. Crème fraîche sorgt für Balance. Ein erster Hinweis auf Steins Stil: Präzision ohne Lautstärke.

3. Grüner Spargel
Gedämpft und auf einer fermentierten Beurre Monté serviert – dazu Bärlauchöl. Hier zeigt sich Handwerk. Und ein tiefes Verständnis für saisonale Aromen.

4. Artischocke
Ein Highlight: Artischocke in vier Varianten – als Püree, Segment, Chip und dekoriert mit Sonnenblumenblüten. Holunder und Buttersauce setzen subtile Akzente. Ein vegetarisches Gericht, das mit Tiefe und Textur glänzt.

5. Blumenkohl
Blumenkohl mal drei: als Sorbet, mariniert, püriert. Gekrönt mit N25-Kaviar und Zitrusfrucht. Kühl, salzig, cremig. Ein Lehrstück in Kontrast und Harmonie.

6. Erbse
Erbse in Erbsensaft gegart – das allein wäre schon fein. Doch dann kommen das im Eiweißgarum gebeizte Eigelb, ein knuspriger Kartoffelcrunch, Maitake-Pilze, Frühlingszwiebel und Forellenkaviar. Eine komplexe, warme, grüne Umami-Bombe.

Diese schöne Zusammenstellung wird dann – wie in einer Bowl – miteinander gemischt und sieht dann zwar längst nicht mehr so toll aus wie zuvor, schmeckt aber einfach großartig.

7. Kabeljau
Der Kabeljau wird gebeizt, die Haut getrocknet und frittiert. Dazu: karamellisierte Sahne, schwarzer Knoblauch, Salzzitronen-Lake. Eine brillante Kombination aus Fisch, Rauch und Frische.

8. Tepache
Ein kleiner Ausflug nach Mittelamerika – als Sorbet mit gegrillter Ananas und Litsea, einem fermentierten Urwaldpfeffer. Süß, rauchig, pikant. Genau die richtige Zwischenetappe vor dem Hauptgang.

9. Duroc
Gegrillter Rücken vom Duroc-Schwein, dazu Salatherz mit Kräutervinaigrette, Anchovis, Kerbel, Estragon – und eine „Tisane vom Schwein“, eine Essenz aus Knochen und Kräutern. Krönender Abschluss der herzhaften Gänge. Erdverbunden, mächtig, präzise.

10. Mädesüß
Jetzt wird es botanisch: Erdbeeren, Mädesüßsorbet, Sauerampfersud, Kürbiskernöl. Ein bittersüßes Spiel mit Texturen und Säuren, das an eine Waldlichtung erinnert.

11. Mama’s Butterkuchen
Und dann – ein Dessert, das mich zutiefst berührt hat. Hefeteig wie von meiner Großmutter, Mandelkaramell, Vanilleschlag, Waldheidelbeeren – frisch und eingemacht. Dazu ein Sorbet. Warm. Vertraut. Herzlich. Der letzte Bissen ist ein inneres Lächeln.








Getränke: Von großen Weinen bis zur echten Tisane
Martina Prenn beweist beim Pairing eine feine Hand. Neben klassischen Weinen überrascht sie auch mit selbstgemachten alkoholfreien Tisanes – Kräuterinfusionen, fermentierte Tees, Gemüseauszüge. Sie sind keine Alternative, sondern gleichwertige Begleiter. Flüssige Reduktion – passend zum Konzept.
- Éclats de Meulières Champagne, Jeaunaux-Robin, Cuvée Pinot Meunier, Pinot Noir, Chardonnay, 2020 & 2021
- 2021 Numen Fumé Blanc, Johannes Zillinger, Weinviertel, Österreich
- 2020 Badacsonyi Varadi Furmint, Gilvesy, Balaton, Ungarn
- 2020 Vouvray Le Portail, Domaine Champalou, Loire, Frankreich
- 2021 Clairin Le Rocher, Rhum Sirop de Canne, Distillerie Le Rocher, Pignon, Haiti (49,5%)
- 2019 Pinot Noir „San Andreas Fault“, Hirsch Vineyards, Kalifornien, USA
- Ancestral Blanco, Brut Nature, Loxarel Vitivinicultors, Penedès, Spanien

Mitten in der Altstadt – das Tisane im Augustinerhof
Das Tisane liegt im Herzen der Nürnberger Altstadt, eingebettet in das architektonisch eindrucksvoll revitalisierte Augustinerhof-Ensemble. Wo früher Geschichte atmete, treffen heute Design, Wissenschaft und Kulinarik aufeinander: Neben dem Restaurant befinden sich das Boutique-Hotel Karl August und ein Standort des Deutschen Museums. Nur wenige Schritte vom Hauptmarkt entfernt – zentraler geht’s nicht. Und dennoch ruhig, fast kontemplativ. Ein perfekter Ort für eine Küche, die Konzentration verlangt.
Wer also beispielsweise einen Tag im Playmobil Funpark in Zirndorf verbringt oder mal etwas Abwechslung zum Bratwurst-Röslein und anderen traditionellen fränkischen Lokalen sucht, der sollte unbedingt ins Tisane einkehren.

Fazit: Das Tisane ist keine Mode – sondern eine Haltung
Das Tisane ist nicht einfach ein weiteres Sternerestaurant. Es ist ein Manifest. Für Reduktion. Für Sorgfalt. Für einen neuen Weg, mit Ressourcen – menschlich wie kulinarisch – umzugehen. Wer Fine Dining neu denken will, sollte hierher kommen. Wer glaubt, alles gesehen zu haben – wird hier neu staunen lernen.
Und wer Butterkuchen mag, wird ihn hier wie zum ersten Mal schmecken.
Infos:
Tisane – Chefs Table Restaurant
Augustinerhof 1
90403 Nürnberg
Reservierung dringend empfohlen
Mein ganz herzlicher Dank geht raus an René Stein und Martina Prenn sowie an das ganze Team des Tisane Nürnberg für diese wunderbare Bewirtung. Hier wird Gastfreundschaft richtig verstanden.
Disclosure: Wir verbrachten eine kurze, doch unvergesslich schöne Zeit im Tisane Nürnberg. Wir danken für die Einladung, ohne die dieser Artikel nicht möglich gewesen wäre. Dennoch bleibt unsere Meinung nicht käuflich. Destinationen, Hotels und Restaurants überzeugen und begeistern mit ihrer Leistung. Dafür nochmals herzlichen Dank!